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Geschichte

Auf der Kuhwiese in der Nähe des Altenberger Doms trafen sich Opladener und Wiesdorfer Wandervögel. Mit Laute, Gitarre und Gesang vertrieben sich die Jugendlichen im Jahr 1925 die Zeit. Der Geiger ist Willi Gade, Amelie Waldorfs späterer Ehemann. (Bilder: privat)

In Lichthosen zum Hordenpott

VON JAN STING, Leverkusener Stadtanzeiger

Der Historiker Reinhold Braun ist auf der Suche nach den Wandervögeln.


Amelie Gade schiebt ihr Gehwägelchen zur Seite und dreht an einer elektronischen Kerze ihrer weihnachtlichen Lichterkette. Alle kleinen Glühbirnen werden gleichzeitig hell. Verschmitzt schaut die 99-Jährige und ist stolz auf ihren „Trick“. Wer einmal bei den Pfadfindern war, der verliert die Entdeckerlust offenbar nie, ist für kein Phänomen zu alt. Und auch wenn sie von Zeiten spricht, zu denen sich die wilden Horden der Wiesdorfer und Opladener Wandervögel in den zwanziger Jahren auf einer Kuhwiese in der Nähe des Altenberger Doms trafen, wirkt das nicht so, als wäre es Gesprächsstoff von gestern. Es gehört zu ihren Erinnerungen und ist so lebendig, als käme sie geradewegs von einer solchen Wanderung zurück. Das letzte Treffen war vor zwei Jahren.

Zu Besuch bei der der alten Dame in Haus Upladin in Opladen ist Reinhold Braun. Der Historiker und Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium forscht über Jugendpflege und Jugendbewegung in der Region Leverkusen-Opladen vor dem Jahr 1933. Sein bisheriges Fazit: „Offenbar scheint die bürgerliche und die Arbeiterjugendbewegung in Leverkusen und Opladen erst spät Fuß gefasst zu haben.“ Früh, so um 1908, habe es in Opladen jedoch schon eine Gruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend gegeben, die womöglich beim Ausbesserungswerk der Reichsbahn angesiedelt war. Die „Farbenfabriken Bayer“ hatten seit 1909 ebenfalls eine Jugendgruppe.

Die Wandervögel wiederum formierten sich aus gutbürgerlichen Kreisen. Else Schauß, Tochter eines höheren Bayer-Beamten, leitete laut Braun ab Frühjahr 1914 eine Mädchengruppe des Jung-Wandervogels in Wiesdorf. 1916 wurde eine Jungengruppe mit den Leitern Friedel Weyrich und Walter Wolmann gegründet. Daneben formierten sich eine Jungen- sowie eine Mädchengruppe des Alt-Wandervogels unter der Leitung von Karl und Paul Niggemann und Emi Schmitz. Um 1921 leitete Alfred Gade die Gruppe. „Ein roter Gade“, wie seine Verwandte Amelie sagt. Die Bezeichnung spielt auf die Haarfarbe an. Geheiratet hat sie den Geiger Willi Gade. Der hatte schwarze Haare.

Wohl der aktivste Jugendbewegte, so Braun, war der Bayer-Chemiker Dr. Friedrich Hager, der 1920 den Jugendring Opladen / Wiesdorf gründete und als Mitglied der Guttempler gegen Alkohol wetterte. Auch Amelie Gade, die mit ihren Sohn tüchtig schimpft, wenn er einmal eine Zigarette raucht, war stets gesundheitsbewusst. Ihre Familie, die Familie Waldorf, besaß bereits seit 1933 ein Reformhaus in Wiesdorf, das heute von Peter Gade geleitet wird. Noch gut erinnert sich die 99-Jährige an ihren Wandervogel-Freund und Montessorilehrer Arthur Wittmer. „Der hatte ein Schild an der Tür, darauf stand, dass nur der Schornstein rauchen darf.“ Noch heute bewundert sie, wie er Kindern das Singen beibrachte und sie in die schwierigsten Tonarten einführte.

Die Wiesdorfer und Opladener Wandervögel liefen natürlich zu Fuß zur Kuhwiese in Odenthal-Altenberg. Später hatte Amelie zwar ein Fahrrad, aber darauf transportierte sie ihr Spinett, das noch heute in ihrem Zimmer steht. Also wurde das Rad samt Spinett geschoben. Man kochte Suppe im „Hordenpott“, und mit Laute, Geige und Gitarre wurde derweil musiziert und gesungen. Ganz natürlich erscheint es der 99-Jährigen, dass die Jungen bei den Treffen nur „Lichthosen“ trugen, eine Art Lendenschurz. Zur Gruppe gehörten auch Friedrich Middelhauve, der Schriftsteller und spätere Widerstandskämpfer Günter Weisenborn sowie der Maler Gerd Müller, der später Kunstprofessor in Oslo wurde. Ein Bild, das er von Amelie Gade gemalt hat, hängt heute in ihrem Zimmer – neben der modernen Lichterkette.

Zeitzeugen gesucht


Zur Jugendpflege und Jugendbewegung in der Region Leverkusen-Opladen vor 1933 sind laut Reinhold Braun bisher so gut wie gar keine Forschungen betrieben worden. Der Historiker ist auf der Suche nach Zeitzeugen oder Angehörigen, die ihm mit Erinnerungen und Quellen wie Fotos, Dokumente, Zeitschriften, Briefen oder Tagebüchern weiterhelfen können. Da er an eine Anschlussarbeit denkt, ist Braun auch an Informationen über die Hitlerjugend in der Zeit von 1933 bis 1945 sowie über die katholische Jugend vor ihrer Auflösung 1933 interessiert. Nach 1945 gab es ein Neuentstehen von Jugendverbänden, was ihn ebenfalls interessiert. Besonders aufschlussreich wären Hinweise über den „Verlag Junge Welt Opladen“, in dem nach 1945 viele für die deutsche Nachkriegsjugendbewegung wichtige Spiel- und Liederbücher erschienen sind. Zumal über die Jugendarbeit in den ehemals selbstständigen Orten Bergisch Neukirchen und Hitdorf hat Braun kaum Materialien.

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Die Kölner Jugendliche Maria S. sang das Lied von den „Nerother Bummlern“ im August 1937 vor der Polizeiwache in Opladen. Wir sind die Kölner Jungens (Nerother Bummler)


Wir sind die Kölner Jungens,
und bilden uns was ein,
Wir haben tiefe Taschen
Wir kaufen englisch ein.
Ho Hei Ho wir Bummler wir sind froh.
Wir Nerother grüssen Horrido.
In Köln das schönste Viertel,
das ist der grüne Gürtel,
da kann man abends sehen,
wie Bummler bummeln gehen.
Ho Hei Ho usw.
Wir schlafen nicht in Betten,
wir schlafen nicht auf Stroh,
wir schlafen hinter Hecken, da beisst uns keine Floh.
Ho Hei Ho uws.
Und was wir gerne hätten,
das wären Zigaretten,
mit Feuer und mit Qualm,
ziehn wir die Strass entlang
Und was wir gerne hätten
Das wär was für die Betten,
und ists kein Mägdelein,
so kanns ne Witfrau sein.“
Einzelne sangen auch: „So kanns ein Pimpflein sein.“

Text des Liedes von der Kölner Gestapo beschlagnahmt bei einer Hausdurchsuchung beim „Navajo“ S. im Oktober 1937.
Das Lied ist in unterschiedlichen Varianten und unter unterschiedlichem Titel überliefert. Neben „Nerother Bummler“ heißt es auch „Kölner Bummler“, „Wir sind die Kölner Jungens“ oder „Der Wachmann“.
Die Kölner Jugendliche Maria S. sang das Lied von den „Nerother Bummlern“ im August 1937 vor der Polizeiwache in Opladen. Sie wurde daraufhin von einer HJ-Streife zur Polizei gebracht und auf Tätigkeit in der „bündischen Jugend“ befragt. Nach Angaben in einer späteren Befragung hat sie dieses Lied von den Navajos an der Neuen Universität gelernt. Die Nerother, die sich 1935 in der Rochusstraße 37 trafen, sangen nach Angaben von Heinrich K. ein Lied namens „Wir sind die Kölner Bummler“ (Text unbekannt). Die Gestapo interessierte sich in ihren Ermittlungen sehr für das Lied, konnte aber nicht feststellen, ob es wirklich gesungen worden war. Nach Auskunft Hans R. hätten die Navajos vom Appellhofplatz das Lied „Wir Bummler“, das von den Nerothern stamme, von einem Jungen bekommen, der bei der Kölnischen Zeitung beschäftigt gewesen sei und der die Initialen H.W. trage
Dieses Lied wurde nach Aussage von Anton K. von den Navajos bei der Razzia vom 12.12.1937 in der Margarethenhöhe gesungen. Es wurde neben anderen Navajo-Lieder bei einer Durchsuchung des Jugendlichen Heinrich S. am 22. Oktober 1937 gefunden. S. gibt zu Protokoll, dass er dieses Lied von einem „Phillip“ habe, der am Heumarkt verkehre. „Die letzte Strophe habe ich selbst so niedergeschrieben, wie sie mir von Philipp gesagt wurde. Wer die Lieder verfaßt hat, weiß ich nicht.“
In der Vernehmung Maria S. wird deutlich, dass einzelne Strophen („Und was wir gerne hätten…) aus dem Lied „Nerother Bummler“ stammen. Dieses Lied soll – neben anderen – von den Navajos des Georgplatzes etc. bei ihren Fahrten nach Rösrath gesungen worden sein.
Quelle: http://www.volksliederarchiv.de