Damals – es war im Jahr 1954
Mein Freund Meinolf und ich planten eine Fahrradtour nach Spanien. Vielleicht sollte sie sogar bis ins ferne Marokko führen. Meinolf war Student, ich ein noch recht frischbackener Eisenbahner. Er studierte in – ich weiß nicht mehr wo? Ich arbeitete seiner Zeit in Remscheid. Die Arbeitslosigkeit hatte mich dorthin verschlagen. Noch überall waren die Spuren des Krieges, der Kämpfe, der Bombenangriffe sichtbar. An den Mauern der Bahngebäude prangten noch Aufschriften wie „RÄDER MÜSSEN ROLLEN FÜR DEN SIEG“, einige nicht so alte Malereien besagten „AMI GO HOME“.
Tausende von deutschen Kriegsgefangenen erlitten noch unsagbare Qualen in der Sowjetunion, im fernen Sibirien. Von ursprünglich drei Millionen starb jeder vierte. Die Letzten kamen erst 1955 oder 1956 heim. Viele Schicksale blieben für immer ungeklärt.
Unser beider Hauptwohnsitz war Meppen im Emsland. Mein Stundenlohn betrug damals 98 Pfennig – oder hatte ich schon meine erste Lohnerhöhung? Dann betrug er schon 1,02 DM. Ein Viertelpfund einfache Fleischwurst kostete immerhin schon 50 Pfennig beim Metzger. Die Halbliter- Flasche Bier im Tante Emma- Laden war nicht unter 60 bis 70 Pfennig zu haben, doch es gab noch keine preiswerten Selbstbedienungsläden. Für das 0,2 Liter- Glas Bier im Gasthaus mussten wir immerhin 35 Pfennig berappen. Für die Kaue (so nannte man die Holzbaracke, kommt aus der Bergmannssprache) in der ich mit noch einem Kollegen wohnte (hauste) hielt man gleich 5 DM pro Monat vom Lohn ein. Die Bude bestand aus einem Mini- Raum, einem Doppelstock- Bett, einem kleinen Tisch, zwei Stühle und zwei kleinen Spinden. Der Weg zur Toilette war weit. Steuern, Vesicherung und sonstige Abzüge waren auch nicht gerade gering. Also, ich geizte mit jedem Pfennig. Aß nur noch das Preiswerteste, trank sieben Monate kein einziges Bier. Rauchte nicht mehr als drei oder vier Zigaretten am Tag. Dann konnte es mein Zimmerkollege nicht mehr mit ansehen. Er lud mich eines Abends in eine Gaststätte ein und gab dort drei Biere für mich aus. Fortan darbte ich weiter.
So füllte sich meine Reisekasse, wenn auch sehr, sehr langsam.
Doch dann brach das Unglück über mich herein. Mein gutes altes Fahrrad, es hatte den ganzen Krieg überlebt, zerbrach. Dabei gab es überhaupt keinen Grund zu zerbrechen. Oder doch? Klar, ganz einfach. Es waren Ermüdungserscheinungen.
Wie dem auch sei, meine ganze Reisekasse reichte nicht einmal für ein richtiges neues Fahrrad. Vielleicht für ein altes Rad – doch wie reist man dann mit leerer Reisekasse?
Am besten gar nicht.
Doch Mama und Papa erkannten meine Qual, sie liehen mir das Geld.
So wurde ich stolzer Besitzer eines neuen Sportrads, hatte dafür aber fast 500 Mark Schulden bei meinen Eltern. Doch in meiner Reisekasse befanden sich noch immer 300 Deutsche Mark, also, ein für mich fast unvorstellbares Vermögen.
Noch immer lag ein riesiges Hindernis im Weg. Es gab seiner Zeit nur etwa zwei Wochen Urlaub im Jahr. Ich brauchte unbezahlten Urlaub. Ganz höflich fragte ich bei meinem Chef auf unterer Ebene, Hauptwerkmeister Girbich, dem Werkstattleiter an. Dieser lehnte ihn prompt ab, es ging nicht, ich war für ihn völlig unentbehrlich. Die nächsthöhere Instanz war der Dienststellenleiter, der Bahnmeister. Ich wendete mich an ihn und beantragte zwei Monate unbezahlten Urlaub.
Dieser meinte „Mir fehlen sie nicht, wenn sie dem Werkstattleiter nicht fehlen, ich habe nichts dagegen.
Ich hielt es für ratsam, die Meinung der unteren Instanz zu verschweigen.
Als letzte Instanz musste das Betriebsamt Remscheid- Lennep zustimmen.
Dort sah man gar keinen Grund abzulehnen. Ich fehlte ihnen nicht, nein, dort kannte man mich nicht einmal.
Auf der Dienststelle erfuhr mein Werkstattleiter noch vor mir, dass mein Gesuch genehmigt worden war. Er sah keinen Grund dem Dienststellenleiter seine Unwissenheit einzugestehen und stellte sich freudig. Überbrachte mir, die für mich freudige Meldung mit brummigem Gesicht. Nannte mich dabei allerdings einen Sauhund, doch damit konnte ich gut leben.
Spanien war damals natürlich noch ein fernes Land, Visen mussten her. Deutsche durften erst seit wenigen Jahren wieder ins Ausland reisen. In Meppen war erst vor kurzer Zeit ein Reisebüro eröffnet worden. Dieses besorgte für uns die Visen. Die Kosten waren ein tiefer Griff in unsere Reisekassen, der Preis betrug je Visa 14 Mark soundso viel.
Dann kam der Tag der Abreise. In Meppen stiegen wir in den Zug, dieser wurde damals natürlich noch von einer Dampflok gezogen und fuhren bis Freiburg im Breisgau.
Hier begann also vor fast 50 Jahren unsere eigentliche Fahrradtour. Aufzeichnungen wurden leider nicht gemacht. Vieles ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Doch einige Episoden sind im Gehirn haften geblieben. Vielleicht nicht immer in der richtigen Reihenfolge. Die Fotos ruhten Jahrzehnte ohne Beschriftung in einer Zigarrenkiste. Die Negative blieben trotz intensiver Suche unauffindbar.
Unsere Ausrüstung war überwiegend – mehr als dürftig. Meinolfs Fahrrad war schon etwas betagt, hatte jedoch schon eine Dreigang- Kettenschaltung. Meines glänzte noch, so neu war es, dank Mama und Papa. Es verfügte sogar über eine der ersten Dreigang- Nabenschaltungen der Firma Fichtel & Sachs ein Ding mit riesigem Durchmesser. (Papa legte es mir ans Herz, sie häufig zu ölen, mein Ölkännchen hatte er vorsorglich gefüllt.). Beide hatten wir, allerdings aus damaliger Sicht, gute Schlafsäcke. Mein gutes Stück hatte mich über einen Nettowochenlohn gekostet. Meine Fahrradtaschen hatte ich billig – nicht preiswert – im Warenhaus erstanden. Als Hosen trugen wir die damals unter Jugendlichen üblichen kurzen, wildledernen (bayrischen) und für schlechtes Wetter Bluejeans. Diese waren damals der letzte Schrei in Deutschland (wir noch nicht so international), denn sie waren neu auf dem Markt. Hatten damals noch einen gut handbreiten, karierten Aufschlag unten am Hosenbein.
Doch – das Allerletzte – das war unser Zelt – es war wirklich international. Es bestand aus einer größeren Anzahl alter Militärplanen, verschiedenster Nationen. Kein Knopf passte zum nächsten Knopfloch. Abends beim Aufbau, besonders bei Regenwetter, mussten wir peinlichst genau die Windrichtung beachten um einer mittleren Katastrophe zu entgehen. Wenn wir das Zelt aufbauten und das Gelände schon feucht war, wurde es auch unser Po. Eine Gummiplane hatten wir nicht, die Plastikplanen waren noch nicht erfunden.
Ich erinnere mich noch an eine Nacht. Abends hatte ich ein Brot als Kopfkissen verwendet, morgens als ich erwachte, lag ich mit dem Kopf in einem Haufen Brei. Unsere Zeltstäbe stammten aus dem heimatlichen Busch, wir hatten sie durch Messinghülsen zusammen-steckbar gemacht. Das Gesamtgewicht des Zeltes war ungeheuer groß, obwohl es auf beide Fahrräder verteilt war. Als Kamera hatten wir eine Kodak Retina mit Faltenbalg aus der Vorkriegszeit dabei. Meinolfs Vater hatte sie uns geliehen. Entfernung, Blende und Belichtungszeit mussten wir schätzen. Beide hatten wir fast Null Ahnung vom fotografieren.
In Frankreich goss es tagelang in Strömen. Ja, so stark, dass wir einige Tage das Zelt nicht verlassen konnten. Vielleicht hat das Wetter etwas dazu beigetragen, die meisten Erlebnisse in Frankreich sind der Erinnerung entschwunden, nur einige wenige blieben haften. So, zum Beispiel folgendes:
In einem kleinen Ort saßen wir auf der Parkbank, aßen unser Brot, ob mit Belag oder ohne, weiß ich nicht mehr. Dazu tranken wir einfaches Wasser aus der Dorfpumpe. Plötzlich stieß uns ein Knabe an und überreichte uns eine Flasche Weißwein. Eine Frau lächelte uns vom Balkon zu und gab uns Zeichen zu trinken.
An einem anderen Tag lud uns ein Bauer zu einem kleinen Umtrunk in seinen Weinkeller ein.
Ein anderes Mal war die Straße auf einer weiten Strecke mit den Kadavern toter Kaninchen übersät. Damals hatten wir keine Erklärung dafür. Später lasen wir dann, dass ein französischer Arzt, der sich über die vielen Wildkaninchen in seinem Garten ärgerte, ein Kaninchen gefangen und mit Myxomatose (unheilbare Viruserkrankung bei Hasen und Kaninchen) infiziert hatte.
Unser Weg durch Frankreich war folgender: Mühlhausen, Dijon und weiter über Bordeaux nach Bayonne. Bei Hendaye – Irun erreichten wir die französisch – spanische Grenze. Hier erlebten wir eine Überraschung der besonderen Art. Ein Visum allein genügte nicht um ein – so – fernes Land wie Spanien zu betreten. Denn schließlich wollten wir mit Fahrzeugen einreisen. Die Gefahr des Fahrrad- Schmuggels bestand ja. Erst als wir jeder 40 Deutsche Mark – als eine Art – „Carnet de Passages“ – hinterlegt hatten, durften wir die Fahrt fortsetzen. Wir bekamen unser Geld allerdings bei der Ausreise in Deutscher Währung zurück.
Das Abenteuer Spanien hatte für uns begonnen.
Im Baskenland kehrten wir in einer kleinen Dorfschenke ein. Tranken jeder ein Glas roten Landwein, welches nach deutschem Geld nur ein paar Pfennige (der Peseta hatte damals noch eine Unterwährung, 1 Peseta = 100 Centimos) kostete. Am Tisch gegenüber saß grübelnd ein altes Bäuerlein. Plötzlich zeigte er auf sich und sagte „Vasco (Baske)“. Wir antworteten „si, si“. Er schwieg eine Weile, dann setzte er das Gespräch fort. „Vasco Kontra Espana“. Spannungen zwischen Basken und Spaniern waren uns unbekannt. Unsere damaligen Massenmedien – na ja! – die meisten Deutschen hatten noch den alten Volksempfänger, auch hatten sie genügend eigene Sorgen. Natürlich gab es auch schon das Fernsehen, doch wer hatte ein Gerät, Fußball schaute man in der Kneipe. Weiterhin glaubte unser Gesprächspartner wohl, wir hätten noch immer nicht kapiert. Es folgten die Worte: Vasco Kontra Franco (damals: spanischer Staatschef und Oberbefehlshaber der Armee, der „Cau-dillio“). Dann hob er seine Arme, machte das Zeichen des Schießens und sagte dazu bumm, bumm.
Auf einem Markt kauften wir eine große Tüte voller köstlicher Weintrauben. Die bisher gewohnten norddeutschen Trauben waren immer mächtig sauer. Wir vertilgten sie mit größtem Genuss. Doch weit und breit gab es keinen Mülleimer. Wohin mit den Abfällen? Wir pfropften sie in die Tüte zurück und gingen auf die Suche. Plötzlich sausten zwei Jungen zwischen uns beiden hindurch, entrissen uns die Abfalltüte und brausten davon. Erst als sie unser schallendes Gelächter hörten, blieben sie überrascht stehen. Schauten in die Tüte und warfen sie wütend fort. Wir jedoch waren unser Müllproblem los.
Einmal waren wir selbst die bösen Buben. Wir mopsten in einem Weinfeld ein paar Trauben. Schon war der Bauer da. Er schimpfte fürchterlich mit uns. Viel verstanden wir nicht. Doch immer wieder fielen die Worte, cincuenta Peseta – fünfzig Peseta = 5.50 DM – ein stolzer Preis für eine Handvoll Weintrauben. Ja, schon damals wusste man, Touristen sind ja – sooo – reich. Dem mussten wir entgehen. Auf das Kommando eins, zwei, drei sagten wir ihm die „Die Glocke“ von Schiller auf. Energisch sprachen wir auf ihn ein. Der so Übertölpelte, stand sprachlos mit offenem Mund da. Dann schwangen wir uns auf unsere Räder, riefen laut „Adios“ und fuhren davon.
Bei einer Mittagsrast geriet mein Sportrad zwischen Brückenmauer und wild gewordenen Stier, mehrere Speichen gingen zu Bruch, wir mussten sie ausbauen oder ersetzen.
Irgendwann flickten wir am Schlauch einen Riss von unheimlicher Länge, doch das Provisorium hielt bis nach Hause.
Autos gab es damals in Spanien kaum, wir sahen im Durchschnitt täglich nur drei bis vier, (der deutsche Verkehr war damals auch noch erträglich). Ja, selbst als wir durch Madrid fuhren sahen wir nur sehr wenige motorisierte Fahrzeuge. Hier schauten wir beide unseren ersten Stierkampf. Er löste bei uns nicht allzu große Begeisterung aus.
Daheim hatten wir in der spanischen Straßenkarte einen Mini- Ort mit dem Namen „Cabanas de la Sagra“ herausgesucht. Diesen hatten wir als unsere Postadresse auserkoren und hatten sie unseren Eltern und Freunden gegeben. Den kleinen Ort fanden wir ???;? auch ohne Probleme. Doch unser Problem war, es gab dort überhaupt kein Postamt. Alle Jugendlichen des Ortes wollten uns Arbeiten von El Greco, deutsch „Der Grieche“ (spanischer Maler und Bildhauer griechischer Herkunft 1541 – 1614) zeigen auf die sie alle mächtig stolz waren. Wir aber wollten weder Bilder noch Skulpturen, sondern unsere Briefe. Nach langem Suchen fanden wir sie beim Bürgermeister. Sogar der Brief meines Vaters war angekommen, obwohl er nicht „lista de correos“ (postlagernd), sondern irrtümlich „eista de cottetos“ geschrieben hatte.
Überall im ganzen Land kamen uns ganze Esel- Karawanen (heutige Fotografen würden sich freuen) entgegen, meist hoch bepackt. Wir wollten in einigen Jahren wiederkommen, uns jeder einen Esel kaufen um damit durch Spanien zu reiten. Doch Meinolf und ich machten erst gut fünfundzwanzig Jahre später unsere nächste gemeinsame Reise und diese führte nicht nach Spanien.
Es war oft unerträglich heiß. So entschlossen wir uns, die Kühle der Nacht zu nutzen. Verbrachten also den Nachmittag im Schatten. Der Abend kam, es wurde kühler. Wir starteten, die Straße war schlecht. Es wurde dunkel, die Straße wurde noch schlechter. Die glühende Lampe von Meinolfs Rad hielt die Rüttelei nicht aus, sie gab den Geist auf. An ein Weiterfahren war nicht mehr zu denken.
Wir suchten einen Lagerplatz für den Rest der Nacht. Eine Taschenlampe hatten wir nicht. Gewichtsersparnis, unnützes Gepäck. Wir suchten und suchten, überall gab’s nur Steine. Endlich wurde Meinolf fündig, ein Platz ganz ohne Steine. Unser Zelt bauten wir schon lange nicht mehr auf. In Spanien regnete es ja nur selten. Also, legten wir eine Zeltplane auf den Boden. Darauf breiteten wir unsere Schlafsäcke aus. Darüber legten wir eine zweite Plane und knöpften diese mit der Unteren zusammen. Dann legten wir uns schlafen. Frühmorgens, es war noch nicht ganz hell, erwachte ich. Ich hörte Stimmen in der Nähe. Auch konnte man Feuchtigkeit in der Luft spüren. Ich fragte Meinolf: „Wo sind wir hier?“ Die Antwort lautete: „Wir liegen mitten auf einer Seitenstraße, ein Ochsenkarren hat schon vor Stunden gewendet“.
Etwas später saßen wir an einer Wasserstelle. Hübsche Spanierinnen waren bei der Wäsche. Sie fütterten uns mit Gurken. Wir durften auf ihren Eseln reiten. Abends sollte Tanz im Dorf sein. Wir wurden dazu eingeladen. Es war richtig schön. Der späte Nachmittag kam. Plötzlich sprang Meinolf auf, er wollte weiter. Er war durch nichts mehr zu halten. Er hatte wohl ein schlechtes Gewissen, er hatte bestimmt an seine kleine Freundin Käthi (jetzt heißt sie Katharina und die beiden sind schon seit Ewigkeiten miteinander verheiratet und haben etliche erwachsene Kinder) gedacht.
Wir fuhren weiter, die Straßen blieben schlecht – ja, saumäßig. Fleißig befolgte ich Papas Rat. Ich ölte und ölte die Gangschaltung und das ganze Rad. Doch soviel Fleiß wird nur selten belohnt. Irgendwann packte die Hinterrad- Nabe nicht mehr richtig dann trat ich leer. In den folgenden Tagen fuhr ich etwa so. Ich nahm Anlauf, sprang dann aufs Rad. Trat vorsichtig in die Pedale, kurz vorm Umkippen fasste dann das Hinterrad. Ich gab ganz behutsam Schwung, das Rad kam auf Fahrt. Das nächste Schlagloch kam, ich trat leer, kurz vor dem Umkippen faste das Hinterrad, ich gab ganz behutsam Schwung, das Rad kam auf Fahrt und so weiter, eine fast unendliche Geschichte begann.
Natürlich klappte es nicht immer, dann sprang ich eben vom Fahrrad. Zwischendurch zerlegten wir manchmal die Naben- Gangschaltung und setzten sie wieder zusammen. Wir wurden immer besser und schneller, doch die Schaltung nicht besser. Ein paar Mal fuhren wir in die Fachwerkstatt. Dort wurde dann die Hinterrad- Nabe zerlegt, der Fachmann bewunderte das komplizierte Innenleben. Dann bemühte er sich redlich alles wieder zusammenzubauen, was aber niemals gelang. Doch wir hatten ja Routine, nach einiger Zeit konnten wir dann mit unveränderter Nabe und Schaltung und einigen Pesetas (ein Peseta war damals noch 11 Pfennig wert) weniger die Werkstatt verlassen. Dann nahm ich Anlauf, sprang auf und die unendliche Geschichte begann erneut.
Dann glaubten wir die rettende Idee zu haben. Wir verbanden das kleine Kettenrad des Hinterrads mittels einiger alter Speichen (diese hatte der vorüberziehende Kampfstier aus meinem Rad getreten) starr mit dem Hinterrad. Der Gedanke war eigentlich gut. Die erste Hälfte der Probefahrt klappte auch gut. Ja, wenn da nicht die Gangschaltung gewesen wäre! Denn während der Probefahrt stieß ich aus Versehen an den Schalthebel. Jetzt stimmte das Innenleben der Gangschaltung mit dem Außenleben nicht mehr überein. Das Kettenrad wollte sich jetzt mit anderer Geschwindigkeit als das Hinterrad drehen. Zu meinem Glück zerbarsten nur die alten zum Verbinden benutzten Speichen. Um eine Erfahrung reicher, doch mit einem weiterhin fahrtechnisch nicht besonders guten Fahrrad setzten wir die Fahrt fort.
Meine – billig – Packtaschen – bereiteten uns immer wieder eine Menge Ärger. Alle Reparatur- Selbstversuche schlugen fehl. Erst als der Fachmann, ein Schuster die Schwachstellen mit viel Leder verstärkte waren wir die Sorgen los.
Irgendwann erreichten wir Toledo. Wieder fuhren wir einen Fachbetrieb an. Der Fachmann hatte von deutscher Fahrradtechnik keine Ahnung, denn auch er kam nur bis zum Zerlegen. Doch er kannte die spanische Technik. Fichtel & Sachs möge verzeihen. Die Gangschaltung wurde komplett entfernt. Eine spanische Freilaufnabe samt längerer Speichen wurde montiert. Ein spanischer Freilauf ist eben nur ein Freilauf. Rückwärts tritt man leer, er hat eben keine Bremse. Dafür gibt’s hinten eine Felgenbremse. Der Freilauf, die Speichen und die Montage kosteten 15 DM, die Felgenbremse sollte noch einmal das Gleiche kosten. Ich war kein Millionär, ich verzichtete.
Die fehlende Gangschaltung bedeutete in den Bergen Spaniens oft stundenlanges bergauf schieben. Die fehlende Hinterrad- Bremse brachte mich einige Mal in größte Lebensgefahr. Mein Bremsweg betrug jetzt oft mehrere hundert Meter. Bergab fuhr Meinolf fortan immer voraus, um mich in scharfen Kurven vor Gefahren zu warnen. Was natürlich nicht immer klappte. So fuhr ich einmal in eine Biegung ein, er klingelte nicht. Ich hielt es für eine sanfte Kurve, doch es handelte sich um eine Haarnadelkurve. Ich begann vorn zu bremsen, das schwere Gepäck drückte. Das Fahrrad begann zu beben, ich hatte das Gefühl das Fahrrad würde zerbersten. Ich ließ die Bremse los, sauste mit Höchstgeschwindigkeit nur wenige Zentimeter am ungesicherten Abhang vorbei. Die Häuser, die Kirche im Tal wirkten wie Streichholzschachteln. Ein andermal fuhr ich bergab mit hoher Geschwindigkeit in eine Kurve ein. Meinolf stand vor einer in seine Richtung ziehenden Herde Kampfstiere. Er klingelte, der Hirte trieb die Herde auseinander. Meinolf fuhr hindurch. Mich bemerkte der Hirte nicht. Die Herde zog sich wieder zusammen. Es war für mich unmöglich noch vor der Herde zum stehen zu kommen. Ohne zu bremsen erwischte ich die letzte noch offene Lücke. Auf die Felgenbremse zu verzichten war wohl nicht Sparsamkeit gewesen, sondern Wahnsinn hoch drei.
An einer steilen, aber geraden Abfahrt passierte zunächst Meinolf einen Lastwagen, der Fahrer gab Halt- Zeichen, doch Meinolf brauste vorbei. Auch mir gab er Zeichen, diese wirkten irgendwie verzweifelt. Ich bremste sofort, doch erst nach einer Ewigkeit stand ich. Schob also meinen Drahtesel wieder bergauf. Ich erreichte ihn, der Fahrer jedoch blieb sitzen und gab mir, für mich unverständliche Zeichen. Zuerst kapierte ich nicht, denn ich hatte damals noch keine Ahnung von Autos und vom Fahren. Doch endlich begriff ich was los war, der Ärmste stand auf einsamster Straße und hielt seinen Wagen, wer weiß wie lange schon, mit der Fußbremse fest. Wahrscheinlich war die Kupplung oder das Getriebe kaputt. Eine Handbremse hatte er wohl auch nicht. Also packte ich dicke Felsbrocken hinter alle vier Räder, erst dann stieg er erleichtert aus.
Unser Weg führte über Cordoba weiter nach Granada, dort bestaunten wir die Alhambra (Palast aus maurischer Zeit). In der Stadt forderte uns allerdings die spanische Polizei auf, die kurzen Hosen gegen lange zu tauschen. So streng waren damals noch die Sitten.
Weiter ging’s über die über dreitausend Meter hohen Berge der Sierra Nevada. Wir erreichten das Mittelmeer, dort lag der kleine Fischerort Motril (heute eine große Touristenmetropole) vor uns. Am Dorfbrunnen waren wir umringt von jungen Schönheiten. Sie wurden nicht unser Schicksal.
Doch das Wasser des Brunnens veränderte vieles.
Fortan hatten wir beide Dünnpfiff schlimmster Art. 30 bis 40 Mal Klo täglich wurde zur Regel. Als Laie würde ich sagen, wir beide hatten die Ruhr. Besonders peinlich war, das dünnbesiedelte Spanien lag hinter uns. Hier am Mittelmeer gab es haufenweise Menschen, doch kaum noch Büsche oder sonstige Deckung. So quälten wir uns noch einige Zeit hin, überall unsere Spuren hinterlassend. So erreichten wir Elche. Der größte Palmenhain Europas interessierte uns kaum.
An eine Weiterfahrt nach Marokko, nach dem geheimnisvollen Afrika war nicht mehr zu denken. Wir lösten uns eine Bahnfahrkarte und nahmen den nächsten Zug heimwärts.
Wir hatten auf der Fahrt durch Spanien nur wenige deutsche Touristen gesehen. Es waren eine Rucksackreisende (Backpacker), vier Berliner- Pfadfinder, sowie einen deutschen Motorradfahrer. Diese konnte man besser Traveller nennen. Jene Pauschaltouristen die heute in Massen Spanien bevölkern fehlten gänzlich. Sogar die Mittelmeerküste war völlig touristenfrei.
Die Ruhe auf der langen Zugreise tat uns gut, ein Klo war in der Nähe. Uns ging es immer besser. Meinolf legte seinen Schlafsack in die Gepäckablage über der Sitzbank, dann kroch er hinein und legte sich schlafen. Einige Zeit später stieg eine ältere Dame zu, legte ihr Gepäck in die Ablage, beziehungsweise auf den schlafenden Meinolf.
Dann nahm sie Platz. Eine ganze Weile verging so. Plötzlich wälzte Meinolf sich in seinem Bett. Die Dame stieß einen schrillen Schrei aus, war – glaube ich – kurzzeitig einem Herzinfarkt nahe.
Ein paar Tage später trafen wir in Meppen ein, einen Monat früher als geplant. Wir waren zwar abgemagert, doch schon – fast – wieder gesund.
Meines Vaters erste Frage lautete: „Ist mit dem Rad alles gut gegangen“. Ich musste es natürlich verneinen. Meinem Vater war ein kleiner Irrtum unterlaufen. Er hatte das Ölkännchen mit Petroleum gefüllt. Ich hatte somit das Rad nicht – geölt – sondern das letzte Öl weggespült.
Die Post war damals natürlich auch noch nicht so schnell wie heute. Erst etliche Tage nach unserer Heimkehr trafen wir dann unsere Grußkarten daheim ein.
Mein gutes Sportrad tat noch viele Jahre seinen Dienst. Auf die Gangschaltung verzichtete ich weiterhin. Doch hinten baute ich eine Felgenbremse ein. Dann kam wieder einmal mein Jahresurlaub, das gute Stück, mein Fahrrad musste mit, denn ich wollte in Meppen angeln. Also, gab ich es am Bahnhof Hilgen als Gepäck auf. Heute gib es dort, an der so genannten Balkanstrecke von Opladen nach Remscheid- Lennep, nicht einmal mehr Schienen. Als ich es beim Bahnhof Meppen abholen wollte, war es recht klein geworden. War es doch in Wuppertal zwischen Säule und Gepäckkarre geraten. Der Sachbearbeiter der Deutschen Bundesbahn, (diese gibt’s mittlerweile auch nicht mehr) hielt 40 Deutsche Mark (die DM gibt’s auch nicht mehr) für eine gute Entschädigung, meine Meinung zählte nicht.
Einige Jahrzehnte später fand mein Dienstjubiläum im Dezember statt.
Nanu!
Ich hatte doch im Oktober bei der Eisenbahn begonnen? Da fiel mir die Fahrradtour wieder ein. Ich hatte damals zwei Monate unbezahlten Urlaub genommen. In dieser Zeit war ich kein Eisenbahner gewesen. Nein, ohne es zu wissen nicht einmal in einer Krankenversicherung.